Schmelztag
Es ist für die Forschung kein Geheimnis, dass im Musikverlagsalltag Herstellungs- und Vernichtungsprozesse gleichermaßen abliefen. Fehlerhaftes wurde korrigiert, Unverkäufliches wurde makuliert, alte Platten wurden eingeschmolzen. Wie, wann und nach welchen Kriterien diese Prozesse aber genau initiiert wurden, entzieht sich uns meistens. Genauso die anderen Zahnräder im Uhrwerk der Betriebsabläufe.
Wann und in welchen Rhythmen der Verlag Rieter-Biedermann seine Platten eingeschmolzen hat, lässt sich anhand der Kalkulationsbücher des Verlags nachvollziehen. Wer einmal durch diese Bücher blättert, wird immer wieder über einen der markanten roten Einzeiler stolpern, die vermerken: „Platten geschmolzen am …“ – oder ähnlich. Im gleichen Zuge ist dann zur Sicherheit oft die Angabe der Druckplattenzahl gestrichen.
Wer öfter als einmal durch diese Bücher blättert, wird schleichend feststellen, dass diese Schmelz-Daten nicht allzu stark variieren. Das hat uns neugierig gemacht, sodass wir eine Bestandsaufnahme gemacht haben, wann und wie häufig dieser Verlag seine Platten einschmelzen ließ. Dass es sich dabei nicht um ein alltägliches Phänomen gehandelt haben kann, wird von einem wirtschaftlichen Standpunkt deutlich: Platten einzuschmelzen, sollte dem Verleger prinzipiell widerstreben. Druckplatten haben beträchtliche Material- und Herstellungskosten, bei Rieter-Biedermann geschätzt zwischen 10 und 50 % der Kosten für eine Erstauflage (abhängig von Umfang, Schriftbild, Auflagenhöhe und Honorar). Einmal hergestellt, können sie aber zu beliebigem Zeitpunkt neue Wirtschaftsgüter – Noten – generieren. Sie sind – ökonomisch gesehen – langfristig investiertes Kapital. Sie zu vernichten, würde entsprechend Kapitalvernichtung bedeuten (wobei man hier abgenutzte Platten ausnehmen darf, denn nach intensivem Gebrauch dürften sie ihre Kosten bereits amortisiert haben).
Das hat uns zu der Vermutung geführt, dass im Normalfall extrinsische Motivationen und Gründe vorgelegen haben dürften, wenn (ersatzlose!) Plattenschmelzungen beschlossen wurden. Die Daten, die sich bei einer vergleichenden Sichtung des ersten Kalkulationsbuches herauskristallisieren, weisen in eine ähnliche Richtung.
Die Einschmelzvermerke in diesem Buch konzentrieren sich bei einer Spanne von rund 70 Jahren hauptsächlich auf einige sehr wenige Tage. Die wichtigsten Daten mit den meisten Einschmelzungen sind der 12. Juli 1888, der 31. August 1889, der 31. Januar 1906 und vor allem – mit großem Abstand – der 15. September 1915. Nach diesem Zeitpunkt sind nur noch vereinzelte Einträge aus den Jahren 1927, 1928, 1935, 1941 und 1943 (also sämtlich nachdem der Verlag bereits im Besitz von C. F. Peters war) zu finden. Das merkwürdigste Datum stellt der 31. Mai 1906 dar, denn an diesem Tag wurden im großen Stile ausschließlich Platten von Werken Robert Schumanns eingeschmolzen. Und zwar beinahe sämtlich.
Aufgrund der Menge an Einträgen aus den Jahren 1915, 1941 und 1943 folgern wir, dass die Weltkriege den Hauptgrund für Plattenverkäufe bei Rieter-Biedermann darstellten. In den 40ern haben die entsprechenden Bearbeiter von C. F. Peters – in deren Besitz der Verlag wie gesagt übergegangen war – Einträge zudem explizit mit dem Vermerk „kriegsverkauft“ versehen. Düster symbolisch mutet bei einem dieser Vermerke ein Fleck verwischter roter Farbe an. Eine verwundete Seite, ausgerechnet bei Händels Dettinger Te Deum, Plattennummer 590: ein Gotteslob für einen militärischen Sieg, genau 200 Jahre zuvor errungen. Manchmal imitiert Natur Kunst.
Nicht ganz klar ist, ob es sich bei den Schmelzaktionen in Kriegsjahren ausschließlich um Abgabe kriegsnotwendiger Materialien handelte, oder ob auch einfach Verkäufe zur Verbesserung der Verlagskasse stattfanden. Dass der Krieg die Buchmärkte schwer traf, hat die Buchhandelsforschung schon gezeigt, und es wäre unsinnig, Gegenteiliges für die Musikalienmärkte zu vermuten. Die Briefkopierbücher (StA-L 21070, Nr. 5011-13) zeigen auch, dass schon Mitte August 1914 – also gut zwei Wochen nach Kriegsbeginn – der Verlag auf stagnierendes Business reagieren musste. Um Löhne weiterzuzahlen, trieb man Schulden ein: „Da nun das Musikgeschäft begreiflicherweise bei den jetzigen Zeiten vollständig darniederliegt, ich aber andererseits, um die Not nicht zu vergrösseren, mein gesamtes Personal zunächst mit vollem Gehalt behalte, so muss ich mich an […] Schuldner wenden […].“ (Brief vom 13.08.1914 an Gerhard Wagner in Elbing)
Viele Dokumente zu den Schmelzvorgängen sind nicht überliefert, lediglich kurze Briefnotizen an die Druckerei C. G. Röder (bei denen die Platten lagerten, übrigens nicht nur diejenigen von Rieter-Biedermann) mit beigefügten Auftragslisten zeugen noch davon. Von der Mammutaktion 1915 ist nur eine handschriftliche Notiz (wohl Anfang September) an C. G. Röder überliefert, die lautet: „Ich bitte folgende Platten zum Einschmelzen bereit stellen zu lassen: […]“, auf die zuerst mehrere Listen mit Plattennummern folgen – insgesamt acht Seiten – und dann ein abschließender Brief vom 15.09.1915: „Zu der bereits in Ihren Händen gewesenen Liste Nr. 1 die ich beilege, sende ich Ihnen die Listen Nr. 2, 3, u. 4 über Platten die ich veräussern willens bin. Ich bitte um Ihr günstigstes Angebot, und sehe Ihren gef. Nachrichten entgegen.“
Wenig später ließ sich der Verlag dann 9.000,- Mark aus seinem Konto bei der Firma Röder auszahlen – eine durch die Plattenverkäufe ermöglichte finanzielle Soforthilfe? War wirtschaftliche Schräglage womöglich auch der Grund für das großformatige Einschmelzen in den Jahren 1888/1889? Leider sind keine Briefkopierbücher vor 1898 überliefert, an denen wir es prüfen könnten.
Noch mehr Fragezeichen kamen auf, als wir geschaut haben, welche Ausgaben denn jeweils ausgewählt wurden, um eingeschmolzen zu werden. Prinzipiell deutet die Sachlage auch hier auf wirtschaftliche Gründe hin: Erfolg und Misserfolg einer Ausgabe scheinen zwar Faktoren zu sein, aber nicht die einzigen. Im vorderen Teil des Buchs ist zumindest gut zu erkennen, dass (zu unterschiedlichen Zeitpunkten) alles ausgesiebt wurde, was es nicht auf zumindest fünf oder sechs Nachauflagen brachte. Und nach einer flüchtigen Durchsicht zeichnet sich ab, dass Platten, die mehr als 30 Jahre nicht mehr benutzt wurden, sich ebenfalls für die Schmelzöfen qualifizierten. Aber trotzdem traf es auch solche, die kurz zuvor noch gedruckt wurden, wie z.B. August Horns op. 10, Drei zweistimmige Lieder, Plattennummer 48, die 1887 neuaufgelegt, und 1888 eingeschmolzen wurden. Vielleicht aufgrund des Zustands der Platten. Aber dann gibt es wiederum auch solche, die trotz mäßigem Erfolg überdauerten, z.B. Carl Amand Mangolds op. 62, eine Serenade im Klavierauszug, Plattennummer 159, die seit 1878 im Regal versauerte. Und dann wäre da noch H. C. Seifferts op. 16, Vier Gesänge für vierstimmigen Männerchor, eingeschmolzen 1889, Restbestände makuliert 1894, nachgedruckt in 100er-Auflage 1906 (!). Die Fachfrau staunt, der Laie wundert sich.
Eine Frage der Plattenzahl oder der Besetzungen scheint die Auswahl jedenfalls auch nicht gewesen zu sein. Deutlich ist nur der Sonderfall 31. Mai 1906: der Schumannschmelztag. Der Verlag hatte viele von Schumanns postumen Werken erstmals veröffentlicht. Wieso er sie nun vernichten ließ, ist (noch) schleierhaft. Vielleicht ging es hintergründig um Rechtefragen. Eigentlich scheint es aber, als habe die Druckerei von C. G. Röder, bei dem die Platten lagen, einfach nur das Lager etwas ausmisten wollen. Es gibt zwei Anhaltspunkte: Im Briefkopierbuch von Rieter-Biedermann (StA-L 21070, Nr. 5001) finden wir erstens ein Antwortschreiben vom 30. Mai 1906, dort heißt es: „In Beantwortung Ihrer Zuschrift vom 29. ertheile ich hiermit mein Einverständnis daß die Platten eingeschmolzen werden, bis auf die Platten zu Schumann, op. 148 [???] 8.vo Verlagsnummer 728, das sind 69 Platten. Diese sind wieder zurückzustellen.“ (Diese Nummer 728 ist übrigens der Klavierauszug zu Schumanns Requiem mit englischem Text – also doch die Rechte?) Und zweitens verzeichnet das Haupt-Inventarbuch von C. G. Röder (StA-L 21059, Nr. 28) insbesondere für die Jahre 1905 und 1906 enorm viele Lithographie-Steine (über die Druckplatten enthält das Buch leider keine Angaben) als „Ausgänge“. Man hatte also vielleicht doch Platzmangel.
Immerhin: Für den Verlag hat sich auch diese Aktion wohl (kurzfristig) gelohnt, denn am Folgetag steht in einem Brief, man „habe […] von dem Einschmelzen und der Zurückstellung der Platten No. 728 Kenntnis genommen, und bitte Sie [d. i. C. G. Röder] den Betrag von M[ark] 1755,- nebst üblichen Zinsen in Conto Current gutzuschreiben“.
Jenseits dessen sind noch einige Fragen offen und werden es wohl auch bleiben, denn die systematische Erschließung der verlagsinternen Produktions- und Destruktionsprozesse gehören nicht zu unserem Forschungsschwerpunkt. Trotzdem sind wir durch das Entwirren solcher Marginalien stets ein Stückchen besser im Bilde darüber, wie die Verlage und die Zusammenarbeit zwischen Verlag und Zulieferern funktionierten, wovon die eigentliche Forschungsarbeit freilich indirekt ebenfalls profitiert.